Im Seminarraum der Essigfabrik auf der Lübecker Altstadtinsel ist reges Treiben. 20 Menschen kommen aus der Pause wieder zurück, plaudern miteinander. Die Geräuschkulisse ist diffus. Es ist ein Samstagnachmittag, die sommerliche Luft im Raum wiegt schwer. Was nicht an der Stimmung der Cochlea-Implantat-Träger*innen liegt, die sich nun nach und nach auf drei Stuhlreihen verteilen. Von hinten fällt Licht in den Raum. Auf der anderen Seite steht ein Klavier an der Wand, daneben Notenständer, eine Musikbox und einige Trommeln.
Wie geht Musikgenuss mit Cochlea Implantat?
Lea Mejia Barnickel steht vor dem Klavier. Wir haben eine Sache total gemeinsam: wenn man Musik studiert – wie in meinem Fall – dann trainiert man auch das Gehör. Bei uns nennt man das Gehörbildung. Dazu gehören verschiedene Trainings. Auch wir machen heute nach und nach verschiedene Übungen.
Barnickel ist Musikvermittlerin am Theater Lübeck. Sie leitet das Hörtraining, das Teil eines Musikworkshops für Cochlea-Implantat (CI) Träger*innen ist. Ein CI ist eine Art Hörprothese, die direkt mit dem Hörnerv verbunden ist. Expert*innen von der Technischen Hochschule Lübeck, dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und dem Theater Lübeck haben den Workshop Musikgenuss mit CI organisiert. Musik hören ist für die meisten Menschen selbstverständlich in den Alltag integriert. Auf dem Weg zur Arbeit, beim wöchentlichen Wohnungsputz oder im Konzertsaal. Wie aber geht Musikgenuss mit Cochlea Implantat?
Wie funktioniert das jetzt?
, fragt eine Teilnehmerin. Du klatschst als erstes, dann zähle ich und schreibe die Anzahl auf?
. Die Teilnehmerin deutet auf einen Zettel, der in einem Klemmbrett steckt. Ganz wichtig: zuerst legt ihr die Fragebögen unter die Stühle
, sagt Barnickel. Den Fragebogen hat Guido Ubben, Hörakustik-Student im 5. Semester an der TH Lübeck, gemeinsam mit Barnickel entwickelt. Der Student möchte herausfinden, inwiefern sich das Hörtraining auf die Teilnehmenden auswirkt.
Die erste Übung ist ein Rhythmustraining. Ich klatsche vor, ihr klatscht nach
, sagt die Musikerin. Was im ersten Augenblick eine bloße Abfolge von drei bis vier Klatschern ist, wird zunehmend komplexer. Im zweiten Schritt versteckt Barnickel nämlich ihre Hände hinter dem Klavier, sodass die Teilnehmenden sie nicht mehr sehen können. Danach müssen die CI-Träger*innen sagen, wie oft Barnickel geklatscht hat und tragen ihr Ergebnis in den Fragebogen ein. Selbst für Normalhörende keine leichte Aufgabe.
Ich bin beeindruckt
Nach dem Workshop steht die Musikvermittlerin strahlend im Pausenraum: Ich bin beeindruckt davon, wie schnell die Übungen direkt sehr gut geklappt haben. Zum Beispiel, als ich einen Rhythmus vorgeklatscht habe, konnten die Teilnehmenden sehr schnell mitklatschen. Das klingt erst einmal einfach. Ist es aber nicht. Ich habe auch noch ein paar schwierigere Aufgaben gestellt und hoffe, dass ich die Teilnehmenden damit nicht demotiviere.
Einfach
, sagt Frank-Christian (Chris) Lilienweiss auf die Frage hin, wie das Musiktraining für ihn war. Einfach, weil ich aus einer Musiker-Familie komme und schon Klavierspielen gelernt habe, bevor ich schreiben und lesen konnte. Mein Onkel war Musiker, mein Großvater war Musiker, meine Mutter hat Klavier gespielt.
Lilienweiss ist groß, hat ein freundliches Gesicht, Glatze und auf seinem Cochlea-Implantat klebt ein Aufkleber der Band Nirvana.
Er wurde mit 11 Jahren stark schwerhörig. Seit 2018 trägt er ein Cochlea-Implantat. Dadurch, dass ich 30 Jahre fast taub war und 2018 erst mein CI bekommen habe, habe ich keinen direkten Vergleich dazu, wie ich als Kind gehört habe.
Wobei sich der Musiker und Head of Music & User Experience bei der Firma MED-EL – einem Hersteller von implantierbaren Hörlösungen mit Sitz in Innsbruck – sicher ist: Ich glaube, dass unser Musiker-Gehirn einfach viel positiver und bereitwilliger ist, sich auf neue Sachen einzulassen als andere Gehirne und das hilft dabei die neuen Höreindrücke mit CI viel schneller zu adaptieren. Ich höre wirklich so, wie ich mich daran als Kind erinnern kann. Das ist total krass. Wobei ich natürlich nicht genau sagen kann, wie ich vor 40 Jahren gehört habe.
Torsten Schubert steht neben Chris Lilienweiß und ist erst anderer Meinung. Nö
, sagt er auf die Frage, ob der Workshop einfach war. Aber die Erfahrung als Musiker ist natürlich für die Rhythmus-Übungen von Vorteil gewesen, so gesehen also leichter
. Schubert und Lilienweiss diskutieren darüber, welche Apps und Übungen sie für den Musikgenuss mit Cochlea Implantat kennen und empfehlen würden. Meludia zum Beispiel, ein Online-Gehörtraining für mehr Musikgenuss, das MED-EL empfiehlt . Es gibt aber auch viele andere kostenlose Apps
, wirft Lea Barnickel ins Pausengespräch ein.
Angewandte Forschung in der Hörakustik
Der Austausch ist für die Teilnehmenden sehr wichtig. Der ist hauptsächlich in den Pausen möglich. Die Teilnehmenden geben ihre Erfahrungen weiter und tauschen Tipps aus. Aber auch für uns als Forschende ist so ein Workshop hochinteressant. So viele CI-Träger*innen in einem Raum bekommen selbst Kliniken nicht zusammen. Für meinen Studenten Guido Ubben ist das die beste Voraussetzung für seine Forschung
, erklärt Tim Jürgens, der an der TH Lübeck Professor für Auditorische Signalverarbeitung ist und den Workshop federführend mitorganisiert hat. Die Firmen Advanced Bionics, MED-EL, und Phonak unterstützen dabei den Workshop mittels Sponsoring.
Spanische Romanze
Ein langer Workshoptag geht für die Teilnehmenden mit Gitarren, Oboen und Klarinettenklängen zu Ende. Das Trio Hermanitos sitzt den CI-Träger*innen gegenüber. Strahinja Pavlovic spielt Klarinette, Jesus Colmenarez Oboe und Alexander Vergara Gitarre. Jeder einzelne von ihnen erklärt sein Instrument und lässt die Zuhörenden in seine Welt eintauchen. Alexander Vergara spielt das Werk Spanische Romanze und erfüllt die Essigfabrik mit einer sinnlichen, nachdenklich machenden Musik. Als er der letzte gezupfte Gitarrenton erklingt, bricht es aus einem Teilnehmer heraus: Wahnsinn!