„Die Form ist schon da, die Funktion muss sich anpassen“

Beim Lübecker Bautag am 3. Juni 2022 steht das Thema Bauen im Bestand im Mittelpunkt

Geballte Kompetenz beim Lübecker Bautag am 3. Juni 2022: Prof. Walter Angonese, Martin Klopfenstein, Prof. em. Hans Kohlhoff, Prof. Michael Locher, Prof. Dieter Schnell, Prof. Walter Angonese (von links). Foto: TH Lübeck.

Geballte Kompetenz beim Lübecker Bautag am 3. Juni 2022: Prof. José Gutiérrez Marquez, Martin Klopfenstein, Prof. em. Hans Kohlhoff, Prof. Michael Locher, Prof. Dieter Schnell, Prof. Walter Angonese (von links). Foto: TH Lübeck.

Altbau oder Neubau? Historische Gebäude erhalten oder Neues schaffen? Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Der Standardneubau produziert mehr klimaschädliches CO2 als eine Sanierung. Mit dem Thema Bauen im Bestand ist der Lübecker Bautag am 03. Juni 2022 daher - wieder einmal - am Puls der Zeit. Unter neuer Leitung von Michael Locher, Professor für Entwerfen und Baukonstruktion im Bestand an der TH Lübeck, beleuchten hochkarätige Referenten das Thema mit vielen praktischen Beispielen aus theoretischer und historischer Sicht. Architekturhistoriker beleuchten das Bauen im Bestand aus theoretischer und historischer Sicht.

Ein besonderer Fokus liegt auf dem Umgang mit Traditionen: Wieviel gestalterische und konstruktive Konstanz beim Bauen ist notwendig, um unser kollektives, urbanes Gedächtnis zu bewahren? Neben dem Klimawandel seien es vor allem die „Ressourcenknappheit und Zuwanderung in Städte, die das Bauen im Bestand zukünftig noch wichtiger machen“, so Locher. „Dadurch erhöht sich der ökonomische und soziale Druck auf die Bestandsbauten gewaltig. Es stellt sich die Frage, wie tiefgreifend wir in den Bestand eingreifen dürfen, um einerseits zeitgenössische Bedürfnisse zu befriedigen und gleichzeitig die vertraute Umwelt zu erhalten.“

Von „Orten als Bedeutungsträger“ spricht Dieter Schnell, Professor der Universität Bern. „Jeder Ort im erlebten Raum hat seine Bedeutung für die Menschen.“ An vielen Beispielen macht er deutlich: Gedanken werden zu Gebäuden, sie geben dem Raum eine zeitliche Dimension. „Ruinen sind sichtbar verstrichene Zeit“ so Schnell. Praktische Aspekte bei der Sanierung eines Hauses stehen im Vortrag des Architekten Martin Klopfenstein im Vordergrund. Da geht es um Schadstoffe und Luftfeuchtigkeit, Pufferzonen, Sedimente, Kontraste. Und um die Schwierigkeit des Abwägens und Entscheidens. „Es gibt nicht die EINE Haltung zum Bauen im Bestand“, betont er.

Wie setzt man ein neues Veranstaltungskonzept im Wittenberger Schloss um, wenn man dabei das Spannungsfeld zwischen Denkmalpflege und Brandschutzauflagen im Auge behalten muss? Architekt José Gutiérrez Marquez berichtet mit vielen augenzwinkernden Anekdoten von seinen Erfahrungen. Die Devise lautet: Nicht mehr die Form folgt der Funktion, sondern „die Form ist schon da, die Funktion muss sich anpassen“, so Marquez. Man müsse jedes Detail neu denken. Bauen im Bestand sei sehr spannend, herausfordernd, immer wieder neu und sehr beglückend.

Bauen im Bestand ist die perfekte Therapie für alternde Architekten.

- José Gutiérrez Marquez

Prof. Walter Angonese, Dekan Adademia di architettura, verwendet in seiner Arbeit einen 13 Punkte-Plan, den er bei jedem Bauprojekt sorgfältig und selbstkritisch durchgeht. Seine wichtigste Regel: Intuition ist der Beginn, sie darf nicht das Ergebnis sein. Den Abschluss bildet der Vortrag von Prof. em. Hans Kohlhoff, ETH Zürich. Mit vielen Beispielen macht er deutlich: Architektur ist keine Frage der Problemlösung, sondern der Steuerung.

Die Kunst ist, unterschiedliche Materialien zusammenzufügen, damit ein monolithisches Ganzes entsteht, dass eine eigene ornamentale Kraft entwickelt.

- Prof. Walter Angonese

Beim abschließenden Empfang wird intensiv diskutiert. Das Fazit fasst José Gutiérrez Marquez zusammen:

Bauen im Bestand ist wie Tango tanzen. Es gibt Figuren, man schlägt etwas vor, die Partnerin nimmt es an oder auch nicht, das ergibt eine Choreografie, die man nicht ein zweites Mal identisch wiederholen kann.